Tamar Dreifuss: “Ich wollte die Kinder erreichen”

Tamar Dreifuss: “Ich wollte die Kinder erreichen”

“Ich wollte die Kinder erreichen”:

Erklären – Erzählen – Erleben: Das Projekt der Gesamtschule Meiersheide zum Leben der Holocaustüberlebenden Tamar Dreifuss

Samstag, der 20. November, 11 Uhr, Schauplatz Gesamtschule Meiersheide: Fast 300 Menschen drängen in die Mehrzweckhalle an der Hennefer Gesamtschule – viel mehr als die Organisatoren der Ausstellung, die an diesem Vormittag eröffnet wird, erwartet haben.

Schnell werden zusätzliche Stuhlreihen aufgebaut. Die Deckenbeleuchtung bleibt ausgeschaltet. Nur eine Installation im hinteren rechten Teil der Halle wird hell erleuchtet und bildet so einen direkten Blickfang. Nachdem alle einen Platz gefunden haben, wird es ruhig in der Halle.

An diesem Vormittag wird eine Installation feierlich eröffnet, die sich mit dem Leben der Holocaustüberlebenden Tamar Dreifuss auseinandersetzt. Dreifuss selbst ist aus Bayern angereist und sitzt in der ersten Reihe.

2015 kam Dreifuss zum ersten Mal an die Gesamtschule Meiersheide und erzählte einer fünften Klasse von ihrer Kindheit als Jüdin in Zeiten nationalsozialistischen Terrors. Noch Jahre später sprachen die Schüler der Klasse über das Treffen mit der Holocaustüberlebenden. Als Tamar Dreifuss entschied zu ihren Kindern nach Bayern zu ziehen und somit die persönliche Begegnung an der Hennefer Schule erschwert wurde, entstand an der Gesamtschule eine Idee: Wegen des großen Interesses der Schüler und dem Nachhall, müsse es doch möglich sein, die Geschichte von Dreifuss dauerhaft erlebbar zu machen – durch eine Ausstellung.

Entstanden ist eine begehbare Installation, die inspiriert wurde von dem Gemälde “Das Ghetto” von Samuel Bak aus 1976, einem Künstler und Cousin Dreifuss’. Die Abgeschlossenheit eines Ghettos sollte sich in der Tektonik der Installation widerspiegeln: Der Besucher wandelt durch sieben kleine Räume. Sechs der Räume thematisieren die wachsende Bedrohung Tamars und ihrer Familie durch das Naziregime, der siebte und letzte Raum ist hell und hoffnungsvoll gestaltet. Zu jedem Raum gibt es Infotafeln und einen Audioguide, in dem ein thematisch passender Ausschnitt eines Interviews läuft, das Tamar Dreifuss mit Maximilian Giesen, einem Schüler der Gesamtschule Meiersheide, geführt hat. Der Anspruch der Installation wird am 20. November klar formuliert: Zum einen soll das Leben Dreifuss’ durch sie nachvollziehbar und für weitere Schülergenerationen ein Stück weit erlebbar werden, zum anderen soll für den heutigen Antisemitismus sensibilisiert werden. Auf die fertige Installation richten sich im dämmrigen Raum nun das Licht und alle Blicke.

Schulleiterin Diane Wiebecke eröffnet die Veranstaltung: Angesichts der aktuellen gesellschaftlich schwierigen Situation wolle sich die Gesamtschule mit dieser Aktion gegen Antisemitismus und Rassismus positionieren. Vor diesem Hintergrund sei sie umso glücklicher darüber, dass so viele Menschen gekommen seien. Nach ihr spricht Barbara Dreymann, Lehrerin der Gesamtschule und Teil des Projektteams, und erklärt den Besuchern die Konzeption der Installation.

Auch Mario Dahm ist zur Eröffnung gekommen. Er sei tief beeindruckt, erklärt der Bürgermeister. Er dankt Tamar Dreifuss für ihre Bereitschaft über ihr Leben zu erzählen und auch dafür, den langen Weg auf sich genommen zu haben, um an diesem Tag bei der Eröffnung dabei sein zu können. Weiteren Dank spricht er den engagierten Lehrern und Schülern aus. Wäre er nicht im letzten Jahr zum Bürgermeister gewählt worden, würde er wohl heute als Geschichtslehrer arbeiten, so Dahm. Er wisse, dass Geschichte für Schüler oft abstrakt bleibe – diese Ausstellung mache Geschichte erlebbar und greifbar.

Nun hat Tamar Dreifuss das Wort. Sie begrüßt alle mit “Schalom”. Auch sie bedankt sich für die große Besucherzahl. Sie habe unbedingt bei der Eröffnung dabei sein wollen, die Kinder hätten ihr gut zugesprochen. Als sie dann hier war, so Dreifuss, habe sie geweint – es sei so realistisch. Sie dankt den an der Ausstellung Beteiligten für ihren unermüdlichen und engagierten Einsatz für das Projekt. Als sie in den Ruhestand gegangen sei, habe sie sich gefragt, was sie nun machen solle. Schon ihre Mutter hatte ein Buch über ihre Geschichte geschrieben. “Wie ein Tropfen auf den heißen Stein, aber viele Tropfen können einen Stein zum Schmelzen bringen”, so Dreifuss. Auch sie selbst fasste den Entschluss, ein Buch zu schreiben. Ihres sollte sich an die Kinder richten. Denn sie hätten ein Recht darauf, zu erfahren, was passiert sei, und die Jugend sei die Zukunft. Sie wollte die Kinder erreichen, auf eine kindliche Art, ohne sie zu traumatisieren. So entstand ihr Kinderbuch “Die Rettung der kleine Tamar”. “Auch Märchen sind grausam”, erklärte Dreifuss. “Und warum lieben Kinder Märchen? Weil das Ende gut ist, und das Ende bin ich.” Die Kinder aufzuklären und zu erreichen, das sei ihre Art dem Antisemitismus zu begegnen, denn viele von ihnen würden in die Politik gehen, ihre Meinung sagen und so dagegen vorgehen, dass sich so etwas wiederhole.

Nachdem Tamar Dreifuss geendet hat, stehen alle Besucher von ihren Plätzen auf und spenden der Holocaustüberlebenden langanhaltenden Applaus.

Im Anschluss ergreift Schulleiterin Diane Wiebecke nochmals das Mikrofon und findet klare und emotionale Worte: “Ich bin total berührt und stolz und auch dankbar, solche Kollegen und Schüler zu haben, die ein solches Projekt angestoßen haben.” Es sei wertvoll, etwas so Dauerhaftes geschaffen zu haben. Dies habe Teamgeist und unfassbares Engagement aller Beteiligten gefordert, so die Schulleiterin weiter. Für sie sei dies ein Symbol für Gemeinschaft – der Gemeinschaft mit Tamar Dreifuss, aber auch für die Schule als solche. Wiebecke dankt den beteiligten Lehrern und allen Unterstützern außerhalb der Schule – insbesondere dem Projektteam, bestehend aus den Lehrer*innen Christiane Liedtke, Barbara Dreymann, Sophia Hose, Marcus Bank, Hubertus Luke, Thomas Adolph und Antje Timmer sowie den Schüler*innen Maria Boden, Marvin Limbach, Max Giesen und Florian Trost.

Wegen des großen Interesses wird die begehbare Installation vom 24. bis 27. Januar nochmals für alle Interessenten in der Mehrzweckhalle Meiersheide aufgebaut.

Dinah Marie Pfeiffer